Ein Anarchist der Monarchie

von Wolfgang Sorgo

„Ich bin ein Anderer“: Viele Identitäten hat sich der Autor Milo Dor (1923–2005) in seinem Leben gegeben und zunehmend lustvoll damit gespielt. Das hatte gute (oder besser gesagt schlechte) Gründe …

Geboren wird Milo Dor als Milutin Doroslovac in der Budapester Josefstadt im März 1923, also vor 100 Jahren. Der Weg zum späteren „Bürger der Wiener Josefstadt“ ist dann ein weiter und vor allem schmerzhafter, denn er führt von einer Jugend im südosteuropäischen Banat und in Belgrad dann als Kommunist und Widerstandskämpfer durch die unterschiedlichsten faschistischen Lager, Gefängnisse und Folterkeller. 1943 landet Milo Dor schließlich als Zwangsarbeiter in Wien und wird dort 1944 von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen. Die stetigen Misshandlungen kann er nur ertragen, weil er sich dabei von seinem ursprünglichen Ich distanziert: „Ein anderer wurde gequält …“

Das Schreiben über sich selbst in der dritten Person, das Erfinden von Alter Egos, wird zum typischen Gestaltungselement vieler seiner letztlich autobiografischen Werke: „Ich schreibe und schaue mir dabei über die Schulter.“
Dor bleibt in Wien als seinem „freiwilligen Exil“ und versucht sich unter dem Pseudonym Milo Dor als deutsch schreibender Autor, denn die Stadt ist für ihn Symbol eines Kulturraums jenseits nationaler, sprachlicher und religiöser Abgrenzungen: „Ich bin ein Anarchist der Monarchie.“

Kochgasse und Umgebung

„Schon als Junggeselle, als ich gezwungenermaßen in Untermiete wohnte, wanderte ich rastlos von Bezirk zu Bezirk, bis ich mich endlich in der Josefstadt niederließ, weil ich mich dort am wohlsten fühlte. Seither bin ich in der Josefstadt geblieben.“

Milo Dor etabliert sich dort zunächst als Antiquitätenhändler (und eher erfolgloser Schriftsteller) in einem kleinen Geschäftsraum in der Kochgasse, voll mit „Plunder, der ihn bis zur Decke ausfüllte“, und mit Schlafmöglichkeit im hinteren Bereich – literarisch verarbeitet in seinem vielleicht erfolgreichsten Roman „Die weiße Stadt“ (1969).

Im Aktionsradius des stets nicht nur nach „vollbusigen Blondinen“ Ausschau haltenden Dor liegen die je nach Jahres-, Tages- oder Nachtzeit verfügbaren (im Winter geheizten!) Stammlokale „Weißes Lamm“ (Ecke Laudongasse/Lange Gasse, heute ein „GolfHouse“), der Piaristenkeller und die Piano-Nachtbar des Hotels „Zum Weißen Hahn“ (heute „Theaterhotel Wien“). Milo Dors Stammcafé ist damals das ein Häusereck weiter gelegene Café Laudon (heute ein chinesisches Restaurant, an der Markise ist noch der alte Name sichtbar), wo er oft bis zum Morgengrauen Billard spielt. Dort lernt er schließlich auch seine zweite Frau kennen, die wiederum im Eckhaus gegenüber wohnt: „Die Besitzerin machte uns miteinander bekannt. Bald saßen wir am selben Tisch, so dass alles Weitere sich dann von selbst ergab …“

collage, milo dor, pfeilgasse

Zwischen Café Hummel & Pfeilgasse 32

Anlässlich ihrer bevorstehenden Eheschließung (1955) gehen beide auf Wohnungssuche: „Es war ein heißer Junitag, und als wir das Haus betraten, wehte uns eine angenehme Kühle entgegen. Die Wohnung befand sich im Parterre, und als wir die Zimmer erreichten, stellten wir fest, dass die ganze Front auf einen Garten hinaussah, von dem diese erfrischende Kühle stammte.“
Neben der geliebten neuen Wohnung in der Pfeilgasse 32 wird nun das Café Hummel zum „erweiterten“ Wohnzimmer: Dort liest Dor – mittlerweile ein etablierter Vielschreiber und Funktionär in der Literaturszene – die Zeitungen und hält seine geschäftlichen Besprechungen ab.

Nächtliches Pokerfieber

Legendär sind Dors nächtliche Poker-Partien in seiner Wohnung, die sich nach Rauswurf durch seine Frau gelegentlich bis in den Morgen – hinter beschlagenen Scheiben im Zigarrendunst – in seinem vor der Haustür geparkten Auto fortgesetzt haben sollen. Wieder nur eines von Milo Dors Alter Egos …?

 

Die rätselhafte Pfeilgasse

Von Milo Dor

Die Pfeilgasse ist eine typische Wiener Eigenart. Sie verläuft zwischen den großen Durchgangsstraßen Josefstädterstraße und Lerchenfelderstraße. Obwohl sie genauso lang ist wie die beiden anderen Straßen, hat sie drei Namen. Unten bei der Lastenstraße heißt sie bis zur Langegasse Josefsgasse. Von der Langegasse bis zur Strozzigasse heißt sie Zeltgasse und erst von da an, bis zum Gürtel Pfeilgasse. Wenn man annähme, dass ein Pfeil gerade sein müsse, würde man sich täuschen, weil die Pfeilgasse an zwei Stellen unterbrochen ist, und zwar bei der Kreuzung Tigergasse, sowie bei der Kreuzung Stolzenthalergasse, in denen sich zwei kleine Parks befinden. Es ist schon merkwürdig, dass sie dort, wo sie ohne Unterbrechung verläuft, drei Namen hat, und dann in drei Teilen einen Namen. Das Merkwürdigste dabei ist jedoch der Name Pfeilgasse.
Ich werde immer wieder von fremden Besuchern gefragt, warum sie so heiße. Ohne viel zu überlegen, erkläre ich ihnen immer, dass in der Zeltgasse vorne während der Türkenbelagerung sich Zelte der türkischen Armee befunden haben müssen, und hier, sozusagen im Hintergrund, das Pfeillager der eroberungswütigen Osmanen.
Ein Freund, der zu den Wiener Besserwissern gehört, klärte mich allen Ernstes auf, dass meine Geschichte falsch sei. Die Pfeilgasse heiße deshalb so, weil sich in ihr ein Haus namens Pfeilhof befinde. Um das zu beweisen, zeigte er mir ein Buch über die Wiener Straßennamen, in dem das tatsächlich behauptet wird. Zu seinem Staunen sagte ich ihm, das wisse ich schon längst, weil ich seit Jahrzehnten in der Pfeilgasse 32, in dem Haus, das Pfeilhof heißt, wohne.
Jetzt war ich am Fragen. Warum heißt der Pfeilhof Pfeilhof? Es muss einen Grund dafür geben. Also ist meine Geschichte auch nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Und wenn sie auch erfunden ist, klingt sie sehr einleuchtend. Se non è vero, è ben trovato, wie unsere italienischen Freunde sagen. Wenn es nicht wahr ist, heißt das auf deutsch, ist es gut erfunden. Die Hauptsache ist, dass ich mich in dieser Pfeilgasse mehr zu Hause fühle als irgendwo sonst.

▶ Milo Dor: Die rätselhafte Pfeilgasse.
Erschienen in: Bezirksmuseum Josefstadt, Katalog Nr.8/2000 zur Ausstellung „300 Jahre Josefstadt“, Seite 60 und 61

Freiwilliges Exil

„Ich lebe gern zwischen den Mauern, die zum Ruhm eines nicht errungenen Sieges errichtet worden sind. Hier kann ich arbeiten. (…) Ich bin ein Fremder, der von nicht näher bestimmten Einkünften lebt, aber sichtbar sein Geld ausgibt, und die Leute, denen ich das Geld gebe, schätzen mich. Ich fahre immer wieder weg, aber sie wissen schon, dass ich wieder zurückkomme. So bin ich da und auch schon nicht mehr da, und bald wird es so sein, als wäre ich nie dagewesen.“

Am Buchmarkt sind aktuell eher wenige Werke von Milo Dor erhältlich. Hervorzuheben wäre die Trilogie „Die Raikow Saga“ (Tote auf Urlaub/Nichts als Erinnerung/Die weiße Stadt), Otto Müller Verlag, Salzburg 1995, ISBN: 978-3-7013-0919-1