Zu ebener Erd!

Die gründerzeitliche Stadt mit ihren Erdgeschoßzonen war immer ein pulsierender Ort. Die Zonen zu ebener Erd spielen auch heute noch eine bedeutende Rolle für die Nahversorgung und geben den Ausschlag, ob eine Wohnumgebung attraktiv und lebendig ist oder nicht.

Von Elisabeth Hundstorfer

Das trifft auf innerstädtische Bezirke wie die Josefstadt besonders zu. Diese Erdgeschoßzonen sind einem massiven Wandel unterworfen. Einst belebt von Geschäften und Betrieben, drohen sie nun zu veröden – die Folge: Leerstände. Wir haben uns in der Josefstadt umgesehen, wie hier neue Nutzungen umgesetzt werden
Die fast hundert Jahre alte Erdgeschoßzone im Ludo-Hartmann-Hof gilt als „Best practice“-Beispiel, denn noch heute ist hier viel Leben. Die großartige Architektur mit ihren hohen Räumen im Lokalbereich ist ein Anziehungspunkt und durch den nach hinten versetzten u-förmigen Laubengang ist ein kleiner Platz entstanden, der heute als schattiger Gastgarten für das liebenswerte Lokal CupCakes dient. Die Gastronomie erobert sehr erfolgreich die Geschäftsräumlichkeiten, nachdem hier viele Jahre mit Büromaschinen gehandelt wurde. Dazwischen finden sich Kreative aus der Musik- und Theaterszene – und unsere neue Redaktion, die wir im Sommer bezogen haben. Dieser Mix aus Gastro und Kreativen ist auch in vielen anderen Metropolen als Trend im Erdgeschoß auszumachen.

Durch Online-Handel und große Einkaufszentren wird die Kaufkraft abgezogen – vielleicht mit ein Grund, dass in der Josefstadt die Dichte an Lokalen stetig steigt.
Die noch vor wenigen Jahren daniederliegende Lerchenfelder Straße hat sich zu einem neuen Hotspot entwickelt. Neben Top-Gastronomie haben innovative Geschäfte wie das Gummistiefelhaus oder Pomp & Gloria zum Aufblühen der Straße beigetragen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich häufig eine Diskrepanz zwischen gefühltem, subjektivem Leerstand und tatsächlichem, objektivem Leerstand. Es existieren durchaus neue Nutzungen in den Erdgeschoßen, aber eben nicht mehr das Milchgeschäft oder der Pferdefleischhauer.

Grundsätzlich ist größtmögliche Flexibilität für die Nutzung der Erdgeschoßflächen gefragt. Das „Zimmer“ in der Piaristengasse zeigt uns, wie eine großzügige Erdgeschoßzone auch temporär genutzt werden kann, zum Beispiel für Pop-up-Stores oder die Kurzzeitvermietung an Veranstalter von Festivals oder NGOs sowie Coworking-Spaces, um bestehende Bedürfnisse abzudecken. In diesem Zusammenhang sind auch Kooperationen zwischen verschiedenen Branchen erfolgversprechend – wenn der Handel zugleich seine Flächen beispielsweise für eine Präsentation von Künstlern nutzt. Der Trend zur multifunktionalen Nutzung von Geschäftslokalen zeichnet sich immer mehr ab.

Mit rund 320 Arztpraxen ist die Josefstadt auch ein „Gesundheitsbezirk“. Hier bieten sich ebenerdige barrierefreie Praxisgemeinschaften oder Ärztezentren an. Auch für Physikalische Institute oder Bandagisten eignet sich die Erdgeschoßzone gut. Freizeiteinrichtungen wie Indoorspielplätze für Familien sind ebenfalls neue Nutzungsmöglichkeiten, die sich dank des leichten Zugangs für Kinderwägen, Fahrräder und sonstige Gefährte der Jüngsten anbieten. Auch Wohnen wird immer öfter als attraktive Möglichkeit für Erdgeschoße gesehen, da hier die Hitze im Sommer in der Regel erträglicher ist. Auf Augenhöhe der Passant*innen befindlich, sind die Erdgeschoßbereiche der Häuser das Aushängeschild einer Immobilie und definieren die Aufenthaltsqualität in den Straßen. Sehr häufig wird das Erdgeschoß heute jedoch von Lager- und Müllräumen sowie Garageneinfahrten dominiert.

 

LIV Strozzigasse & Lange Gasse

Der Bauträger und Immobilienvermarkter Liv verfolgt hier eine andere Strategie, etwa bei der Revitalisierung von Altbauten in der Strozzigasse (Liv im Strozzihof) und Lange Gasse (Liv LANGE ’50) und bei der Errichtung eines Neubaus in der ­Piaristengasse (Liv in der Piaristengasse). „Im Planungsprozess legen wir ein besonderes Augenmerk auf den Erdgeschoßbereich. Die Erdgeschoßzone wird oft als Problemzone erachtet. Wohnungen im Erdgeschoß gelten als unattraktiv. Als Immobilienentwickler sehe ich es als unsere Aufgabe, attraktive Nutzungsmöglichkeiten im Erdgeschoß zu schaffen. Gleichzeitig gilt es auch bei der Entwicklung eines Immobilienprojekts den Straßenraum als Ort der Kommunikation miteinzubeziehen. Das kann beispielsweise eine Verbreiterung des Gehwegs bedeuten oder die Pflanzung von Bäumen. Hier stehen wir in engem Kontakt mit den Bezirken“, so Dr. Clemens Rauhs, Geschäftsführer der Liv GmbH.

Die attraktive Gestaltung des Eingangsbereichs erfolgt beispielsweise durch die Schaffung von kleinen Gastronomie- und Geschäftsflächen. So ist die Erdgeschoßzone des Strozzihofs straßenseitig vollkommen offen mit Schaufenstern gestaltet. Das Neubauprojekt in der Piaristengasse wurde straßenseitig mit hellem Naturstein verkleidet. Die schlichte, elegante Fassadengestaltung wird nur durch kleine unaufdringliche Loggien und im Erdgeschoß durch die Einfahrt zur Tiefgarage und das verglaste Entree durchbrochen. Im Eingangsbereich ist die Lichtskulptur „Crystalgate“ des Künstlers Friedrich Biedermann zu finden. Zusammen mit einem lang gestreckten Sitzstein werden die Bewohner*innen und Besucher*innen zum Verweilen eingeladen. Das Entree schafft eine Verbindung zwischen innen und außen und erzeugt einen fließenden Übergang.

Die Belebung der Erdgeschoßzone spielt sich nicht nur straßenseitig ab, sondern auch auf Innenhofseite. Hier schafft Liv Innenhöfe mit Bäumen, Stauden, Sträuchern und Sitzflächen als Erholungsraum für Gewerbetreibende und Bewohner*innen des Hauses. Es ist manchmal ganz gut, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, denn nicht immer muss alles neu erfunden werden. Es gibt auch „Best practice“-Beispiele aus dem vergangenen Jahrtausend, die als Anleitung für Neues dienen können.

 

 

Zu Ebener Erd

„Promenadologie“?

Bei dieser vom Schweizer Lucius Burckhardt entwickelten Mischform von Wissenschaft und Kunst „geht“ es um den tieferen Sinn und die wunderbare Entspannung beim Spazieren und Flanieren. Enge Gassen mit historischen Gebäuden und darin verborgene Innenhöfe oder Arkadengänge wird man mit einem SUV kaum erkunden können. Und auch die Erdgeschoßzonen können beim Flanieren ihren vollen Charme ausspielen. Darum ist jetzt Promenieren durch die Josefstadt angesagt. Mit der „Wien zu Fuß“-App kann man sich Fußgänger*innen-Zonen und Durchgänge anzeigen lassen. Die Wiener Fußwegekarte zeigt ebenfalls das Wegenetz sowie Stadtwanderwege. In einer Detailansicht im Maßstab 1:10.000 finden sich die inneren Stadtbezirke. Neben Fußwegen, Einkaufsstraßen und Flaniermeilen sind auf der Karte nützliche Tipps wie öffentliche WC-Anlagen und Trinkbrunnen zu finden.

www.wienzufuss.at

 

Straße ohne Namen?

Straßennamen sind eine unerlässliche Orientierungshilfe in der Großstadt. Sie sind aber auch Teil der öffentlichen Erinnerung. So haben sich auch in Wien Ereignisse, Schicksale und Persönlichkeiten durch die Benennung von Straßen in das Gedächtnis der Stadt eingegraben. Das „Lexikon der Wiener Straßennamen“ des Josefstädters Peter Autengruber trägt beiden Aspekten Rechnung. Es gibt gar nicht so viele Orte, die man noch benennen kann. Doch kürzlich konnte im Achten ein Platz nach einer verdienten Frau benannt werden. Die 1900 geborene Josefstädterin Trude Waehner hatte sich nicht nur als expressionistische Malerin einen Namen gemacht, sie engagierte sich auch im Kampf gegen den Faschismus. Nun wurde ihr ein Platz gewidmet: der sogenannte Alserspitz an der Einmündung der Skodagasse in die Alser Straße, das Tor zum Achten, das jetzt auch attraktiviert werden soll.

▶ Lexikon der Wiener Straßennamen, Peter Autengruber. 2020, ISBN/EAN978-3-903070-11-0. Wundergarten Verlag

 

Leerstandsaktivierung

In der Kochgasse ist während des Sommers erstmals eine großzügige Konstruktion aus Lärchenholz mit Sitzmöglichkeiten samt Tisch, offenem Bücherschrank, schwarzem Brett und Blumenkästen sowie einer Fahrradpumpe aufgefallen. Hier befindet sich das Büro KRW (Kreative Räume Wien – Service für Leerstandsaktivierung und Zwischennutzung), das sich auch mit dem neuen Leben von Erdgeschoßzonen beschäftigt. Seit 2016 befasst sich das Josefstädter Büro im Auftrag diverser Wiener Stadtratsbüros mit den Bereichen Leerstand und Raumnutzung durch Kultur, Soziales, Kreativwirtschaft und Stadtteilarbeit. Ein Schwerpunkt liegt auf der Beratung von Raumsuchenden und Nutzer*innen sowie Liegenschaftseigentümer*innen.

▶ Kreative Räume Wien, Kochgasse 25. www.kreativeraeumewien.at

 

Designer-Flohmarkt

Das „Zimmer“ in der Piaristengasse 6–8 richtet sich neu ein, darum trennt es sich von seinen Designermöbeln (Vitra, Prouvé, Artek, Friso Kramer, Verzelloni …). In Verbindung mit dem Fundus von Julia Eisenburger (House of Clothes) gibt es im „Zimmer“ am 12. September ab 10.00 Uhr einen Flohmarkt – also neben Möbeln auch First- & Second-Hand-Designerkleidung. Heu & Gabel sorgt für den passenden Bio-Feinkost-Gaumenschmaus.  Am 3. Oktober fungiert das „Zimmer“ als Partner der Design Week. Es ist also ganz schön viel los in der hippen Erdgeschoßzone. 

www.zimmer.co.at


Ausgabe 03/2020