Das Privileg, zu Fuss zu gehen

Die Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Dr. Johanna Rachinger, hat uns zum Interview eingeladen. Die imperiale Stiege zum Prunksaal weist den Weg zu ihren Büroräumlichkeiten.

Von Elisabeth Hundstorfer

Ein Blick in den Prunksaal genügt, um vom geschichtlichen Erbe, das dieses Haus birgt, tief beeindruckt zu sein. Die Nationalbibliothek ist aber alles andere als eine verstaubte Bibliothek, sie ist ein modernes Unternehmen, das zukunftsweisend der heutigen Informationsgesellschaft gerecht wird. Johanna Rachinger steht nicht nur seit vielen Jahren an der Spitze der Österreichischen Nationalbibliothek, sondern ist auch seit drei Jahrzehnten engagierte Josefstädterin.

Sie sind ursprünglich aus Oberösterreich – was hat Sie in den Achten geführt?

Nach meinem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik habe ich beim Wiener Frauenverlag (Anm.: heute Milena Verlag) in der Lange Gasse zu arbeiten begonnen. So bin ich sehr früh mit der Josefstadt in Berührung gekommen. Ich mochte diesen überschaubaren Bezirk mit seinem dörflichen Charakter schon damals sehr. Nach einer beruflichen Station beim Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg kam ich 1992 zurück nach Wien – und zwar in die Josefstadt. Seit rund 30 Jahren bin ich nun hier und kann mir nicht mehr vorstellen, in einem anderen Bezirk zu leben.

Was schätzen Sie besonders an der Josefstadt?

Ich habe das Privileg, zu Fuß in die Arbeit gehen zu können, das genieße ich sehr. Die Josefstadt hat funktionierende, interessante Geschäfte und Buchhandlungen. Auch in den Seitengassen gibt es immer etwas Neues zu entdecken. Es ist sehr angenehm, wenn ich am Abend nach der Arbeit aus dem doch in der Regel sehr touristischen Ersten Bezirk per pedes in die entschleunigte Josefstadt unterwegs bin.

Ich schätze auch die Kultureinrichtungen im Bezirk, wie das Theater in der Josefstadt oder das Vienna English Theatre und die Möglichkeit, dass ich auch andere Spielstätten wie das Konzerthaus oder das Burgtheater und die Oper fußläufig oder mit der Linie 2 – meinem „Schienentaxi“ – erreichen kann.

Sie unterstützen auch regelmäßig Initiativen im Bezirk, etwa als Botschafterin des Achtsamen 8. oder als Schirmherrin des Musik-Ensembles Affinità. Wie sehen Sie Ihre Rolle als prominente Bewohnerin im Bezirk?

Durch meine berufliche Tätigkeit habe ich nicht sehr viel Zeit, um mich zu engagieren, aber ich bringe mich gerne ein, wo es mir möglich ist. Ich war auch mehrmals in der Jury zur Josefstädterin des Jahres und setze mich im Piaristengymnasium bei der Auszeichnung für besonders engagierte Schülerinnen und Schüler ein. Besonders viel Freude macht mir auch meine Funktion als Vorsitzende des Beirats des Theaters in der Josefstadt. Als Österreichische Nationalbibliothek übergeben wir jährlich zu Weihnachten Bücherspenden an die Kinder der Häftlinge in der Justizanstalt Josefstadt.

Sie wohnen schon sehr lange in der Albertgasse – was würden Sie sich für Ihr Grätzl wünschen?

Mir gefallen die Ansätze der Begegnungszonen und der Begrünung – wie zum Beispiel in der Strozzigasse oder der Blindengasse – sehr gut und ich hoffe, dass diese weitergeführt werden. So wird die Lebensqualität der Josefstädterinnen und Josefstädter – vor allem in Anbetracht des Klimawandels – gesteigert.

Auch die Lerchenfelder Straße hat sich sehr gut entwickelt, man steuert hier dem Leerstand sehr erfolgreich entgegen. Sehr gut finde ich auch die Tempo-30-Zonen im 8. Bezirk. Ich fahre sehr selten mit dem Auto, aber wenn, dann finde ich es auch sehr angenehm, nicht von den Autos hinter mir gehetzt zu werden.

Nationalbibliothek heute

Die Österreichischen Nationalbibliothek besteht über 650 Jahre, sie ist DER Ort der österreichischen Geschichte und Identität. Wo steht das Haus heute in der österreichischen Wahrnehmung?

Wir sind ein identitätsstiftendes Symbol, die mit Abstand größte Bibliothek des Landes
und eine der wertvollsten weltweit. Es ist unsere Aufgabe, einerseits die Tradition und das kulturelle Erbe zu bewahren und auf der anderen Seite den Ansprüchen einer modernen Informationsgesellschaft gerecht zu werden. Im Rahmen einer umfangreichen Digitalisierung unserer Bestände geht es uns vor allem um die Demokratisierung von Wissen. Die Corona-Krise haben wir zum Anlass genommen, unsere Online-Formate wie Online-Führungen und Online-Ausstellungen weiterzuentwickeln und auszubauen. Ein schönes Beispiel dafür ist die aktuelle Online-Ausstellung über die österreichisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger, die am 30. Oktober 90 Jahre alt geworden wäre. Unsere Aufgabe, die Sammlungen öffentlich zugänglich zu machen, setzen wir im Rahmen von Dauer- und Sonderausstellungen in unseren fünf Museen und im Prunksaal mit großer Freude und Engagement um.

Als im digitalen Trend liegend kann man auch die Aktivitäten der Nationalbibliothek in puncto Crowdfunding bezeichnen. Kürzlich wurde die jüngste Crowdfunding-Kampagne zur Restaurierung großformatiger Bildbände aus dem 18. und 19. Jahrhundert sehr erfolgreich abgeschlossen.

Wir sind gefordert, auch eigene Einnahmen zu erwirtschaften, um unser kulturelles Erbe auch für spätere Generationen zu erhalten. Crowdfunding-Aktionen sind eine gute Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen und für die Sache zu begeistern. Die Erfahrung zeigt, dass es viele gibt, die durch großzügige Spenden Verantwortung übernehmen.

Mit Sponsoring und Buchpatenschaften können wir ebenfalls den Bestand sichern, indem bestimmte Werke restauriert und gleichzeitig digitalisiert werden.

Die Nationalbibliothek hat kürzlich ihre Vision 2035 mit dem Leitmotiv „Wir öffnen Räume“ vorgestellt. Wo sehen Sie darin Ihr wichtigstes Anliegen?

Eine Institution, die sich mit Wissen beschäftigt, muss wissen, wie das Wissen für die Welt von morgen aufbereitet werden soll. Ziel der Vision war es, einen Kompass für weitere strategische Ziele zu entwickeln. Wenn wir für unsere Vision das Motto „Wir öffnen Räume“ gewählt haben, dann meinen wir das physisch, virtuell und ideell. Es geht vor allem auch darum, die Herausforderungen der modernen Informationstechnologien zu nützen und die Bibliothek auch zu einer virtuellen Bibliothek auszubauen.

Ihr Vertrag wurde um weitere fünf Jahre verlängert: Was reizt Sie besonders an der Stelle der Generaldirektorin?

Besonders reizvoll finde ich die Verbindung aus Kultur und Wirtschaft. Meine Liebe zu Büchern und mein Gefühl für Zahlen waren damals wie heute ausschlaggebend – man braucht in dieser Position jemand, der beides vereinen kann. Mein Job ist so vielfältig, das macht ihn täglich aufs Neue spannend. Die vielen Möglichkeiten, Neues zu schaffen, sind faszinierend.

Was hat sich in den letzten 20 Jahren in einer Top-Führungsposition geändert?

Meine Routine und Erfahrung kommen mir zugute, um ein Haus mit 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu führen. Das Thema Führung war und ist einem deutlichen Wandel unterworfen und die Pandemie hat dies nochmals verdeutlicht: weg von „Old School“ hin zu noch mehr Flexibilität in Hinblick auf Arbeitszeiten und Homeoffice, Möglichkeiten, eine gute Work-Life-Balance mit entsprechenden Kinderbetreuungen zu leben und ein Engagement für das Thema Nachhaltigkeit. Gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen sich ihren Arbeitgeber danach aus.

Ich glaube, das gelingt uns sehr gut. Im Oktober wurde die Österreichische Nationalbibliothek zum familienfreundlichsten Unternehmen in der Kategorie „Öffentlich-rechtliche Unternehmen“ in Wien gekürt. Die Verleihung des equalitA-Gütesiegels für innerbetriebliche Frauenförderung, das die Österreichische Nationalbibliothek als erste Kulturinstitution 2020 erhielt, sowie das Zertifikat „berufundfamilie“ und das 2021 verliehene Österreichische Umweltzeichen bestätigen die Österreichische Nationalbibliothek als attraktive Arbeitgeberin. Das freut mich sehr.

Danke für das Gespräch.

▶ Zur Person: Dr. Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, der sie seit dem 1. Juni 2001 vorsteht, ist bis 2026 bestellt. 1995 bis 2001 war sie Geschäftsführerin des Verlags Ueberreuter. Die gebürtige Oberösterreicherin studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien.

▶ Österreichische Nationalbibliothek 1., Josefsplatz 1, www.onb.ac.at


Ausgabe 04/2021