Nie andere beeindrucken

Mit dem Dokumentarfilm „27 Storeys“ über den Wohnpark Alterlaa rückt auch Harry Glück wieder in den Fokus.

von Reinhold Schachner

Der zu Lebzeiten polarisierende Architekt wohnte und arbeitete fünf Jahrzehnte lang in der Josefstadt, plante im Bezirk vier Wohnhäuser und sorgte für zwei Skandälchen.

Obwohl der Architekt Harry Glück im Jahr 2016 im Alter von 91 Jahren verstorben ist, sind noch immer zwei Gebäude in nächster Nähe zueinander mit Büroschildern versehen. Gibt es Nachfolger:innen? Schaut nicht danach aus, wie ein Blick ins Web verrät, aber eine Festnetznummer taucht noch auf.

Frau Glück hebt ab und informiert, dass die Büros seit dem Tod ihres Mannes (der auch noch im hohen Alter arbeitete, Anm.) nicht mehr aktiv seien. Mein Vorhaben, ehemalige Mitarbeiter:innen ihres Mannes über dessen Wohnbauten in der Josefstadt zu befragen, versucht sie mir auszureden: Erstens seien diese Gebäude unbedeutend, zweitens könne man mittlerweile alles in Büchern (siehe Kasten) nachlesen. Ich entgegne, das Haus in der Trautsongasse sei außergewöhnlich, was Frau Trixi Becker-Glück mit „Ja, das ist schön!“ und der Telefonnummer eines Herrn Kombotis quittiert.

Architekt und Geigenbauer

Mit einem Stipendium im Gepäck ist der Architekturstudent Nikolaos Kombotis 1967 aus Griechenland nach Wien gekommen – und geblieben. Seine Nebenjobsuche führte ihn ins Büro von Harry Glück, wo er dank seines Talents vom Fleck weg engagiert wurde. Hobbymäßig ist der Architekt übrigens Geigenbauer.
„Im Januar 1971 habe ich mich vorgestellt. Damals gab es nur fünf oder sechs Mitarbeiter – ich bin bis 2016, bis zum Tod vom Herrn Glück, geblieben“, erzählt Nikolaos Kombotis, der für dieses Gespräch mit der Erlaubnis von Frau Glück an seinen früheren Arbeitsplatz in der Lange Gasse 8 einladen konnte. Das letzte gemeinsame Projekt sei die Biotope City Wienerberg gewesen. Der Erfolg von Harry Glück und seinem Team ging in den 1970er-Jahren durch die Decke, insbesondere durch Großbauten wie den Wohnpark Alterlaa für die GESIBA (Gemeinnützige Siedlungs- und Bau AG). In den 1980er-Jahren waren rund einhundert Mitarbeiter:innen an vier Bürostandorten – alle in der Josefstadt – tätig.
Der ehemalige Hauptsitz in der Lange Gasse 8 wird noch als Archiv genutzt und von Nikolaos Kombotis und einem seiner Söhne betreut. Darüber wohnt Frau Glück. Ihr Mann baute dieses repräsentative Jugendstilhaus Mitte der 1960er-Jahre um und erwarb es 1974. „Der Standard“ wollte einmal sinngemäß von ihm wissen, warum gerade er als Grünraumverfechter sich privat im dicht verbauten Stadtzentrum niedergelassen habe: „Durch Zufall wohne ich in einem Haus im achten Bezirk an einem großen Park, von dem ein Teil sogar mir gehört. Ohne diese konkrete oder eine ähnliche Situation wäre ich schon längst am Stadtrand – in irgendeiner Wohnung in Alterlaa.“

collage architektur harry glück

li: Nikolaos Kombotis bat uns an seinen früheren Arbeitsplatz in der Lange Gasse 8, oben: Bianca Gleissinger, Regisseurin von „27 Storeys – Alterlaa forever“

Das „schöne“ Haus

Der von Harry Glück erwähnte Garten ist auch über das „schöne“ Haus in der Trautsongasse 3 zugänglich. Nähert man sich von der Lange Gasse, sieht man zuerst nur eine wie ein Schutzpanzer wirkende Fassade. „Es ist in der Zeit der Waschbetonplatten errichtet worden“, erklärt Nikolaos Kombotis, „die sind leicht aufzuhängen und fertig!“ Fertiggestellt wurde es 1971, ein Jahr nach dem Wohnhaus Zeltgasse 4/Piaristengasse 30 (siehe Kasten). 1969 war das erste von insgesamt vier von Glück geplanten Wohnhäusern in der Josefstadt bezugsfertig, nämlich der geförderte Mietwohnbau in der Pfeilgasse 31 – damals mit der orangefarbenen Fassadenverkleidung bestimmt der letzte Schrei, doch mittlerweile selbst für Vintage-Affine wohl keine Pilgerstätte mehr.

Dagegen entpuppt sich das ursprünglich nur als Wohnhaus gedachte Gebäude Trautsongasse 3, das zwischendurch auch ein Glück-Büro beherbergte, sukzessive als Hingucker. Im ersten Stock hat sich das Architekturbüro PSLA eingemietet, geleitet von Lilli Pschill und ihrem Partner Ali Seghatoleslami, der als 13-Jähriger aus dem Iran nach Wien – und just in den Wohnpark Alterlaa – gekommen ist. Sie suchten Räumlichkeiten in der Nähe ihrer Wohnung im achten Bezirk und wurden 2016 über ein Inserat fündig, erzählt die Architektin.

Die gefaltete Fassade sei für sie „schon lustig, weil sie von der Lange Gasse schauend komplett geschlossen ist, man sieht nur Waschbeton und kein einziges Fenster“. Apropos: In ihrem Büro sind noch die Originalfenster verbaut, und nicht irgendwelche: „in einem Vollholzrahmen fahrende Glasscheiben“. Die reduzierten Materialien seien sehr feinfühlig aufeinander abgestimmt, innovativ und hochwertig verarbeitet, ergänzt Ali Seghatoleslami.

Schreie aus der Trautsongasse 3

Diese Qualität dürfte auch Oskar Werner (1922– 1984) angezogen haben, den wohl berühmtesten Bewohner der Trautsongasse 3. Und den lautesten: Nikolaos Kombotis kann sich noch gut daran erinnern, bei geöffneten Fenstern den Schauspieler „öfters schreien gehört zu haben, wenn er eine Rolle übte“. Beim Lokalaugenschein waren in erster Linie Vogelstimmen zu vernehmen. Der innerstädtische Lärm dringt nicht in den Garten, der früher zum Park des Palais Auersperg gehörte. Wie er in den Besitz von Harry Glück gelangte, muss hier unbeantwortet bleiben, jedoch ist es dem passionierten Schwimmer nicht gelungen, sich dort, im gewidmeten Grünland, ein kleines, einem Hügel nachgeahmtes Hallenbad zu errichten. Der „Kurier“ schrieb 1977 dazu: „Wiens Modearchitekt Harry Glück hat schon so viele Neubaumieter mit Schwimmbädern auf den Hausdächern beglückt, daß er jetzt selbst nach ähnlichem Luxus lechzt.“ Schließlich wurde das Becken weder im Garten noch am Dach, sondern im Keller seines Jugendstilhauses errichtet.

Einen ungleich größeren Skandal erregte zwei Jahre zuvor der Entwurf für ein Bürogebäude einer Versicherung hinter dem Palais Auersperg in der Lerchenfelder Straße, auf dem ehemaligen Standort einer Kaffeerösterei. Kritiker:innen und Gutachter:innen warfen Glück vor, entgegen der Bauordnung ein „Hochhaus“ geplant zu haben – haltlos, wie sich herausstellen sollte. Warum es nicht realisiert wurde, kann Nikolaos Kombotis nicht beantworten. An dem jetzt dort befindlichen Gebäude, in dem die MA 62 untergebracht ist, lässt er kein gutes Haar: „Harry Glück wollte nie etwas konstruieren, um andere zu beeindrucken. Sein Ziel war, der sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Trotzdem haben seine Häuser besser als die anderen ausgeschaut.“ Das gilt für Glücks Wohnbauten in der Josefstadt nur mit Einschränkungen.

 

Dokumentarfilm

Bianca Gleissinger ist in Alterlaa aufgewachsen. Für ihre Abschlussarbeit an der Filmhochschule Berlin blickt sie auf den Wohnpark ihrer Kindheit und Teenagerjahre zurück und setzt ungeschminkt, aber respektvoll Bewohner:innen ins Bild. Der abendfüllende Dokumentarfilm besticht sowohl mit Witz und (Selbst-)Kritik als auch mit außergewöhnlicher Kameraführung, für die Klemens Koscher bei der diesjährigen Diagonale den Preis für die beste künstlerische Bildgestaltung erhalten hat.
Auf dem Weg von Alterlaa nach Berlin, wo sie seit rund zehn Jahren lebt, hat die Regisseurin übrigens „einen tollen Zwischenstopp“ in der Josefstadt eingelegt – die Wohnung in der Lerchengasse sei wunderschön und selbst für drei Studentinnen ohne Kohle leistbar gewesen.
▶ Kinostart am 2. Juni. „27 Storeys – Alterlaa forever“

Terrassenbau

„Egal was vorne passiert, die Idee kommt erst dahinter“, so erklärt Nikolaos Kombotis die 1983 errichtete Anlage mit geförderten Eigentumswohnungen in der Josefstädter Straße 51. Die postmoderne Fassade ignoriert man am besten, und auch der erste Hof wirkt trotz Begrünung und voller Auslastung der Erdgeschoßzone nicht sehr einladend. Dagegen präsentiert sich der zweite Hof freundlicher und der rückseitige Gebäudeteil des kleinen Wohnkomplexes offenbart sich in Terrassenbauweise. Auch ein Garten fehlt nicht. Aber es gibt keinen Pool am Dach und mit Sauna und Waschküchen nur wenige Gemeinschaftsräume. Ernst Manomics zählt zu jenen Bewohner:innen, die diese auch nutzen. Ihm gefällt, dass Harry Glück „ein bisschen sozial gedacht hat“, doch die begrünten Innenfassaden seien „der größte Blödsinn, weil sie Insekten bis in die Wohnungen hinein anziehen“ würden.

Werkverzeichnis

Reinhard Seiß (foto)dokumentierte weit über hundert Bauten von Harry Glück. Der Stadtplaner, Filmemacher und Publizist ergänzte dieses umfangreiche und schlüssig gestaltete Werkverzeichnis mit Expert:innen und Bewohner:innengesprächen und Kurzessays, auch von Gastautor:innen. Hertha Hurnaus steuerte fulminante Fotostrecken bei. Wie wichtig dieses Konvolut für Glücks beinahe unüberschaubares Oeuvre ist, beweist eine Anekdote von Nikolaos Kombotis: Erst durch Seiß’ Arbeit habe er erfahren, dass es sich beim Haus Zeltgasse 4/Piaristengasse 30, an dem er regelmäßig vorbeigegangen sei, um ein Frühwerk von Harry Glück handelt.
▶ Harry Glück. Wohnbauten. Hg. von Reinhard Seiß. Müry Salzmann 2014. 240 Seiten, € 48,–

Theoretische Schriften

Harry Glück hat sowohl mit spitzer als auch mit wissenschaftlicher Feder geschrieben. Letztere musste er für seine Dissertation mit dem Titel „Höherwertige Alternativen im Massenwohnbau durch wirtschaftliche Planungs- und Konstruktionskonzepte“ zücken. Mit dieser Arbeit aus dem Jahr 1982 wollte er belegen, dass seine Häuser viel billiger seien als alle anderen. Viele weitere theoretische Schriften ergänzen dieses Buch, das Gerhard Habarta posthum im Auftrag der Witwe Trixi Becker-Glück herausgegeben hat. Der Verleger und Galerist war auch Besitzer des Palais Auersperg und beauftragte Harry Glück mit dem Um- und Ausbau der Orangerie.
▶ Harry Glück. Schriften zur Architektur für Menschen. Hg. von Gerhard Habarta. Books on Demand, 2018 ISBN 978-3-7528-5096-3. 460 Seiten.
€ 57,60 (Hardcover). € 19,99 (E-Book)